Mit dem Fidibus auf Reisen

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Longyearbyen Teil 1

Dies ist nun der erste Beitrag aus Longyearbyen in Spitzbergen. Mein Flug, verlief ohne ProblemedenHeute ist in Norwegen ein besonderer Tag. Es ist der Verfassungstag. In jedem Jahr, am 17 Mai, wird der Nationalfeiertag mit einer Parade gefeiert.
Doch zwischen heute und dem letzten Bericht liegt eine längere Zeitspanne, während der ja auch einiges geschehen ist.

Am ersten Tag habe ich mich zunächst einmal in meinem neuen Heim eingerichtet, eingekauft und den Aktivitätenplan erstellt, doch dann am vierzehnten Mai machte ich mich auf die Socken unm die Stadt zu erkunden. Hilfreich war mir da ein Audioguide, der von meinem Gastgeber erstellt wurde. An achtundvierzig Stationen erfuhr ich alles Wichtige über die Stadt, das Leben und die Infrastruktur.
Einst diente Longyearbyen nur den Arbeitern der nahe gelegenen Minen als Schlafsiedlung und erst später zogen die Familien nach. So entwickelte sich langsam aus der Abeiterunterkunft eine Wohn und Familienstadt. Nun ist die Stadt auf etwa 2600 Einwohner angewachsen, die ständig oder auf längere Zeit hier wohnen. Longyearbyen ist bei einigen nicht nur wegen der arktischen Verhältnisse so beliebt, sondern auch wegen der besonders geringen Spitzbergensteuer. Auffällig an der Architektur ist, dass alle Gebäude auf Stelzen errichtet wurden. Alle Rohre für Abwasser und Wasser, sowie die Fernwärme, die in einem eigens hierfür gebauten Kraftwerk erzeugt wird, verlaufen oberirdisch, damit sie nicht dem instabilen Permafrostboden zum Opfer fallen. Bei einigen großen Bauten sorgt eine extra Kühlung unter dem Gebäude dafür, dass sich die Gabäudewärme nicht auf den Permafrost überträgt und ihn zum Schmelzen bringt.
Überall an den Berghängen sehe ich Relikte der alten Gruben und deren Förderanlagen.
Interessant ist auch das Svalbard Museum mit seiner beeindruckenden Präsentation der Geschichte Spitzbergens, seiner geografischen und geologenschen Entwicklung und der Erforschung. Das Museum befindet sich in dem modernen Gebäude der Universität. Natürlich widme ich diesem Museum einen ganzen Tag. Es gibt in der kurzen Zeit, die ich auf Svalbard verbringe, den besten Einblick in das Leben auf dem Archipel.


Später besuche ich die nördlichste Brauerei der Welt, die Svalbard bryggeri. Da es auf Svalbard verboten war Alkohol zu produzieren und zu verkaufen wurde eigens hierfür das entsprechende Gesetz geändert.
Ein Highlight ist eine Fahrt mit dem Hundeschlitten. Die Hundestationen befinden sich weit außerhalb der Stadt, da das Gebell und Geheul von mehr als vierhundert Hunden nicht auszuhalten wäre.
Mit ein paar anderen Reisenden starten wir und wissen noch nicht, ob die Bedingungen für eine Schlittentour noch ausreichen, oder ob stattdessen die Tour mit Karren stattfindet. Schon von weitem hören wir die Hunde heulen und bellen. Allein in dieser Station befinden sich etwa neunzig Hunde und unsere Ankunft signalisiert ihnen, dass es Arbeit gibt, aber auch viele Ahhs und Oooos und Streicheleinheiten. Die Tiere sind außerordentlich freundlich, sie springen an mir hoch, lecken mir durchs Gesicht und genießen es sichtlich, wenn ich ihnen den Rücken kratze. Wir bekommen unseren Schlitten zugewiesen und erhalten eine kurze Einweisung in die Technik. Doch zuerst müssen die Hunde eingespannt werden. Ich schnappe mir eines der Tiere und kann es nur mit größter Anstrengung halten und führen. Immer breche ich im faulen Schnee ein, aber loslassen ist keine Option. Man spürt die Freude und Aufregung der Hunde, die erst im Geschirr ein wenig ruhiger werde. Und dann geht’s los. Dem ersten Schlitten kann ich nur mit einem Sprung in allerletzter Sekunde entkommen. Wo er mich traf, prangt jetzt heute ein dicker fetter blauer Fleck. Jetzt gibt es kein Bellen und kein Heulen mehr. Mit allem, was die Tiere geben können, stürmen sie los und zerren den Schlitten selbst über nassen, schneefreien Boden einen Hang hinauf und dann erreichen wir die Schneefläche. Es ist eine wilde Jagd und immer wieder muss der Schlitten gebremst werden. Es ist nur noch das Kratzen der Kufen und das Klirren der Hundegeschirre zu hören. Ohne auf Wasserlöcher oder Unebenheiten auf der Strecke zu achten, jagen wir dahin, von Zeit zu Zeit eingehüllt in eine Wolke übelriechender Hundeabgase. Richtig gefährlich wird es jedoch, wenn die Hunde es nicht beim Entgasen lassen, sondern sie sich auch von den weiteren Produkten ihres Stoffwechsels trennen. Die können das perfekt in voller Fahrt erledigen und dann heißt es in Deckung gehen. Shit happens!
Nach der Hälfte der Strecke tauschen wir die Plätze. Mein Partner übernimmt die Rolle des Passagiers, die wegen der gerade geschilderten Besonderheiten, die bei Weitem gefährlichere ist und ich beziehe die Position auf den Kufen. Hat man in seinem Leben schon einmal auf Skiern gestanden, dann ist das Steuern kein allzu großes Problem und für den Notfall gibt es eine Bremse und einen Anker. Nur mithilfe dieser Tools bekommt man die Hunde zu stehen.

Am Nachmittag sind wir nach einem wärmenden Kaffee, einem Cognac und vielen interessanten Gesprächen wieder zurück in der Stadt. Der alten Tradition folgend gehe ich am Abend noch einmal in die Bar, treffe den Guide der Brauereiführung, der überzeugt davon ist, den Weltrekord im Marathon in diesem Jahr zu unterbieten, Joshua, den Amerikaner des letzten Abends, der als Notfallmediziner alle Krisengebiete des Nahen Ostens bereist hatte, den Chefkoch eines Expeditionsschiffes und einen hünenhaften Eiskletterer, Jäger und Kanute. Irgendwann stellte sich heraus, dass Joshua und der Hühne aus dem gleichen Ort kommen, und dann wurde eine Runde nach der anderen bestellt. Irgendwann habe ich dann die Flucht ergriffen. Spitzbergen ist zu teuer, als dass man den nächsten Tag nur noch mit brummendem Schädel erleben kann.
Ja, und heute also ist Verfassungstag. Doch es ist auch der Abreisetag von Julia und Kinga. Nach dem gemeinsamen Frühstück tauschen wir die Adressen aus und dann heißt es Abschied nehmen. Auf dem Weg zu Ausgang dreht Kinga sich noch einmal um, nimmt mich in die Arme und drückt mich so fest, dass mir beinahe die Luft wegbleibt und dann rollen auch schon dicke Tränen ihre Wangen herab. Ich erinnere sie so sehr an ihren Vater, der nicht mehr lebt. Vor Rührung wären mir beinahe selbst die Tränen gekommen, ein letztes Winken und dann steht der Flughafenbus vor der Tür.
Morgen ziehe auch ich um. Es ging leider nicht anders, als dass ich die letzten drei Tage in einem Zimmer im Gästehaus am Ende des Tals buchen musste. Nun, auch das wird sicher wieder viele neue Geschichten hervorbringen.
Also los. Einer alten Tradition folgend…

78° nördlicher Breite

Die Fahrt zum Flughafen verläuft ohne große Aufregung. Noch immer fällt ein leichter Nieselregen vom Himmel, die Wolken hängen dicht über dem Wasser, geben die Sicht nur auf den Fuß der Berge preis. Ein wenig muss ich suchen, bis ich den gebuchten Parkplatz gefunden habe. Eingepackt in alle meine warmen Kleider, die ich nicht mehr im Rucksack untergebracht habe, stapfe ich dich wie ein Bär zum Terminal, liefere mein Gepäck ab und versuche meinen Laptop mit dem Flughafennetz zu verbinden. Fehlanzeige! Wegen Umbauarbeiten gibt es zurzeit kein öffentliches Netz. Kurz vor zwölf beginnt das Boarding und dann sitze ich am Fenster der Boeing 737 und hoffe, dass sich die Seitenwand während des Fluges nicht verabschiedet.

Start in Tromsö
Start in Tromsö

Für kurze Zeit taucht unter mir noch einmal Tromsö auf. Neben der Brücke sehe ich die Eismeerkathedrale und dann tauchen wir ein in graue Wolken, die wir bereits nach wenigen Minuten wieder verlassen, über mir der blaue Himmel, unter mir das weiße Wolkenmeer.

Es ist seltsam, das erste Mal fühle ich mich unwohl. Es ist nicht der Flug, aber es ist das Gefühl an meinem Ziel ein Fremder zu sein. Woher das Gefühl kommt, kann ich mir nicht erklären. Liegt es daran, dass ich anscheinend der Einzige bin, der nicht einer Reisegruppe angehört, oder daran, dass mir ohne meinen FidiBus das Stück Zuhause fehlt, dass mir schon in Kanada ein Gefühl der Geborgenheit vermittelte. Oder war es die Befürchtung, dass sich unter Umständen von meinen Plänen nichts realisieren lässt. Schließlich hatte ich von dem lokalen Veranstalter auf meine Wünsche noch keine Antwort erhalten. Den Grund meines Unwohlseins werde ich wohl nicht mehr ergründen.

Der Flieger geht in den Sinkflug. Wir durchstoßen die obere Wolkendecke und nun sehe ich schroffe Berge, und von der Sonne angestrahlt, blendend weißen Schnee. Sonst nichts. Nichts deutet darauf hin, dass hier Menschen wohnen. In abenteuerlichen Kurven umfliegen wir die Berge und nähern uns dem Flughafen von Osten. Dann tauchen die Erzminen, der Hafen und der Flugplatz auf und ich bin da.

Anflug auf Longyearbyen
Anflug auf Longyearbyen

Der Shuttlebus bringt mich in die Stadt, meine Unterkunft ist nur wenige Schritte entfernt. Von Chris werde ich freundlich in Empfang genommen und er zeigt mir mein Zimmer. Die gesamte obere Etage ist als Gästeetage mit zwei Bädern, einem gemütlichen Aufenthaltsraum mit großer, nach Süden ausgerichteter Fensterfront, einer Küche und vier Gästezimmern. Alles hell und freundlich eingerichtet. Mit mir wohnen noch zwei polnische Frauen im Gästehaus. Julia besitzt einen deutschen Pass, da sie in Deutschland geboren wurde, aber nur in ihrem ersten Lebensjahr in Deutschland lebte. Heute wohnt und arbeitet sie in Norwegen. Ihre Freundin Kinga kommt aus Polen und spricht nur polnisch und ein wenig englisch. So läuft die ganze Konversation über Julia

Es trifft sich gut, dass Chris und das Team von Polar Bear ein Reiseunternehmen im gleichen Haus betreiben, und so habe ich schon bald eine Liste von Aktivitäten für die nächste Zeit in den Händen.

Mein eigentümliches Gefühl ist noch nicht verschwunden, aber es ist schwächer geworden. Wie immer gehe ich noch einmal in die nahe gelegene Bar. Vielleicht kann ich hier ein paar erste Kontakte knüpfen. Es gibt keine Theke, alle sitzen an Tischen. Geschlossene Gruppen der diversen Reiseveranstalter. Ich setze mich an einen Tisch zu einem Herren, der sich ausschließlich seinem Handy widmete, begleitet von Knurren und Lauten der Entrüstung. Gespräch? Fehlanzeige!

Nach einem Bier habe ich genug von diesem Tag. Ich ziehe mich zurück und werde die Bequemlichkeit eines soliden Bettes genießen.
Morgen geht es los, dann werde ich die Stadt erkunden.

Gehe einmal im Jahr an einen Ort, an dem du noch nie warst*

Es ist der Tag meines Fluges nach Spitzbergen. Doch was geschah bisher?
Ich hätte natürlich in Narvik am Hafen stehen könne, doch wer sich einen Hafen mit kleinen Fischerbooten vorstellt und netten kleinen Kneipen rundherum, der wird bald erkennen, dass nichts, aber rein gar nichts von all den romantischen Vorstellungen auf den Hafen von Narvik zutrifft. Es ist ein Industriehafen, zweckmäßig und unprätentiös. Das Regenwetter tut das Seinige noch obendrauf. Doch vierundfünfzig Kilometer nördlich gibt es, laut iOverlander einen schönen Stellplatz an einem kleinen See in einer kleinen Gemeinde mit einem kleinen Outdoor-Fitness-Bereich. Also mache ich mich auf den Weg.
Der Platz ist tatsächlich recht hübsch. Gleich nebenan befindet sich die Bibliothek und dort gibt es auch immer ein WiFi. Falsch gedacht. Die Bibliothek war geschlossen und somit kein Netz verfügbar. Was ja so schlimm auch nicht ist. Viel schlimmer, und das wurde mir am nächste Tag bewusst ist, dass mein Platz von allen Seiten einsehbar ist. Pipi machen in freier Natur ist da nicht so ohne Weiteres möglich, zumal das Fehlen der Dunkelheit mir ebenfalls keinen Schutz bot. So kam es, wie es kommen musste. Sehr früh am Morgen verlangte mein Stoffwechsel sein Recht. Die Häuser um mich herum waren noch immer vorhanden und es brannte Licht in ihnen.
Ich konnte mich hier einfach nicht zu einem „Freigang“ durchringen. Somit startete ich meinen FidiBus und fuhr zur nächsten Tankstelle. Puh! Es war höchste Eisenbahn.
Der Rest des Tages wäre beinahe entspannt zu nennen gewesen, hätte nicht ein mir wohlbekanntes Schleifen die Ruhe genommen. Ein Blick unter das Auto bestätigte meinen Verdacht. Der Auspuff war zwischen erstem und zweitem Topf auseinandergerissen, genau dort, wo ich ihn mit einem Rohrverbinder bereits am Tag der Abreise reparierte. Auf einem halbwegs ebenen und asphaltierten Parkplatz mache ich mich an die erneute Reparatur. Gegen die Nässe von unten schützt mich eine große Fußmatte. Gegen die Nässe von oben schützt mich nur der unerschütterliche Glaube an meine Gesundheit. Es gießt mittlerweile in Strömen. Nach einer viertel Stunde habe ich die beiden Rohre wieder verbunden, allerdings schaffte ich es nicht, den Auspuff in seiner Gummihalterung zu fixieren. Das erledige ich, wenn ich von Spitzbergen zurück bin. Dann habe ich, wenn nötig, viel Zeit um auf einen regenfreien Tag zu warten.

Für die folgende Strecke wähle ich eine kleine und sehr holperige Straße durch den Övre-Dividal-Nationalpark. Eine traumhafte Berglandschaft tut sich vor mir auf. Wie in einem Theater schiebt sich hin und wieder der Wolkenvorhang auf und gibt den Blick frei auf die hohen und schroffen Berge links und rechts. Vereinzelte Gehöfte säumen die Straße, ein Bach mäandert mit lautem Plätschern entlang meines Weges. Immer wieder halte ich an und staune und nun weiß ich die Antwort auf die mir oft gestellte Frage, welches Land ich wohl am schönsten fände. Die Antwort fiel mir immer schwer. Jedes Land birgt eine große Zahl unterschiedlichster Aspekte. Viele Bausteine tragen das emotionale Gerüst eines Landes. Die Landschaft, soziale Gesichtspunkte, die politische Situation, die Menschen und auch das eigene Gefühl, mit dem man einem Land begegnet. Das weiß ich nur zu gut aus meinen Erfahrungen mit den USA in den ’68er Jahren. Das Land ist groß und fantastisch, die Menschen auf eine oberflächliche und unverbindliche Art freundlich, doch mein ganz persönliches Erlebnis verbindet dieses Land für immer mit einem unüberwindbaren negativen Gefühl.

Die Welt Skandinaviens aber übt eine starke Attraktivität auf mich aus. Sie prägte einst mein Verständnis für die Zusammenhänge und dem empfindlichen Gleichgewicht der Natur. Hier empfand ich das minimalistische Leben nicht als belastend, sondern als eine Herausforderung. Hier fühlte ich mich nicht als Gast, sondern für eine begrenzte Zeit als Teil meiner Umwelt. Vieles von dem, was ich hier gelernt habe, bleibt anderen Menschen verschlossen. Es ist nicht Norwegen, nicht Schweden, nicht Finnland, die ich als schönstes Land küren möchte, es ist das ganze Skandinavien, in dem die Menschen jene Gelassenheit ausstrahlen, die von der Ruhe der Landschaft ausgeht. Das raue Dasein außerhalb der großen Metropolen schärft den Sinn für das Angenehme des Lebens. Geselligkeit, Sauna, das Leben in und mit der Natur. Ja, heute wüsste ich eine Antwort.

Am späten Abend treffe ich in Tromsö ein. Noch immer regnet es Hunde und Katzen. Ich bin verwirrt von der Straßenführung. Kilometerlange Tunnel unterhalb der Stadt halten den größten Teil der Autos aus der Stadt fern, doch ich finde meinen heutigen Standplatz am Strandvejen, direkt im Hafen und am Wasser. Auch nicht romantisch, aber dafür sicher und es ist nur für eine Nacht. Nun heißt es umpacken und nichts vergessen und dann suche ich mir eine nette Bar. Ich finde, ich hab es mir heute verdient. Erst scheint es, als hätten sich die Preise gegenüber denen von vor fünfzig Jahren nicht verändert, doch statt zwölf Mark kostet das Bier heute zwölf Euro. Wie soll man denn da Alkoholiker werden. Ja, Norwegen ist teuer, sehr teuer!

In einer Stunde startet mein Flieger. Ich bin gespannt, was mich erwartet.


* Dalai Lama




Mein Berg, mein Abisko, mein Abschied


Ich habe geträumt heute Nacht. In meinem Traum stapfte ich durch tiefen Schnee, doch er war nicht locker, sondern hatte die Konsistenz von Schlick. Und dann steckte ich fest, meine Beine waren festgesaugt in dieser tückischen Masse und ich konnte sie nicht herausziehen. Glücklicherweise erwachte ich, bevor ich verloren und vergessen in der weißen Schneelandschaft für immer verloren war.
Die Nacht verbrachte ich auf einem Rastplatz nahe der E10 und abgesehen von diesem Traum war mein Schlaf gut und lange und nach den Frühstück mache ich mich auf den Weg. Kurz vor elf soll ab Abisko ein Zug nach Narvik gehen und um vier am Nachmittag kann ich wieder zurück nach Abisko fahren. Für die vierzig Kilometer nach Abisko habe ich zwei Stunden Zeit. Genug um in Abisko alte Erinnerungen zu wecken. Ich las auf dem Weg die Ortsschilder und sie waren mir so vertraut. Torneträsk, hier war die letzte Bahnstation am See. Dann tauchte vor mir die steile Ostwand des Luopakte auf. ‚Mein Berg‘. Hier seilte ich mich einst ab, um nach der Gleitschicht zwischen den Gebirgsdecken zu suchen. Stenbaken, Meine Station, von der ich meinen Weg ins Gelände antrat. Irgendwo dort in einer Mulde musste mein Zeltplatz gelegen haben. Einen Sommer teilte ich mir den Platz mit einer Kommilitonin, der jedoch die Einsamkeit und die fremden Geräusche derart zusetzten, dass sie, nach einem Angriff durch ein Rabenpärchen am nächsten Tag ihre Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes in den Dreck warf und wieder in die sichere Enge ihrer Studentenbude zurückkehrte.
Ich genoss die Ruhe, die Freiheit, die Demut, wenn die sich die Gewitter an der Felswand brachen und mit ungeheurem Getöse aus allen Richtungen zu kommen schienen. Dann lag ich im Zelt oder versteckte mich hinter großen Felsen, in der Hoffnung, dass mich die Blitze nicht finden.
Schien die Sonne, legte ich mich, barfuß bis zum Hals, auf die Wiese und wurde nur durch die Rülpslaute der Schneehühner gestört. Fast fünfzig Jahre liegt das nun schon zurück und noch immer spüre ich die Kraft der Prägung in diese Zeit. Und dann bohrt sich durch die Schicht der Erinnerung eine seltsame Traurigkeit. Mit einem Schlag wird mir meine Endlichkeit bewusst. Ich werde ‚meinen Berg heute wohl ein letztes Mal sehen. Ein letztes Mal meine Erinnerungen in jene reale Welt zurücktragen in der sich so viel verändert hat. Da steht ‚mein Berg‘ und es ist ihm so egal, was ich an ihm erforschen wollte, wieviele wärmende Feuer ich an seinem Fuße entfachte, was ich in seiner Nähe erträumte und ob ich ihn ehrfürchtig oder mit wissenschaftlicher Arroganz betrachte. Wenn ich schon nicht mehr auf dieser Erde wandele hat mein Berg noch Jahrmillionen vor sich. Hier und da bekommt er ein paar Narben, er altert, wie das Gesicht eines Greises, in dem, wie auf den Rillen einer Schallplatte ein ganzes Leben gespeichert ist. So werden zukünftige Wissenschaftler das alte Gesicht meines Berges studieren.

Ich bin so verzaubert von meinen Erinnerungen, dass ich die Zeit vergesse und nun spute ich mich um rechtzeitig in Abisko zu sein. Dieses kleine beschauliche Dorf aus dereinst einer handvoll kleiner Holzhäuser ist zu einer Stadt gewachsen. Nur mit Mühe erkenne ich den Bahnhof wieder. Wo ist unser kleiner Laden, der bei Ankunft der Marburger Geologen sein Lager mit Paletten von Leichtbier bis unter das Dach füllte? Weg! Wo der kleine Schotterweg an dem aus den Häusern links und rechts der unverkennbare Dunst der Schnappsdestillen für den guten Hjemebrand, dem Hausschnaps, drang? Weg! Stattdessen ein Supermarkt, eine Schamanin, die in ihrem Shop ihre Dienste den Touristen auf bunten Plakaten anbietet und – keine Eisenbahn. Es verkehren nach einem Unglück mit einem Erzzug vorerst keine Personenzüge auf der Strecke Abisko – Narvik, da die Strecke repariert und gesichert wird. Ich treffe ein paar Gleisarbeiter und sie erzählen mir von den zwei Unfällen, leider sprechen sie nur sehr schlecht englisch, dafür aber umso besser deutsch, denn es sind deutsche Arbeiter, die hier vom europäischen Ausschreibungsverfahren profitieren.
Wie von einem Magneten angezogen lande ich dann in der wissenschaftlichen Station Abisko und trotz vieler Veränderungen ist doch Vieles noch wie vor fünfzig Jahren. Da steht unsere Hütte an der gleichen Stelle mit dem gleichen Namen „Salix“, Dort die Hütte „Calix“, an deren Wand damals eine große Strichliste aller von uns getrunkener Biere hing. Die Labore, die Küche und selbst die kreative Unordnung auf dem Gelände war zwischen all dem Neuen noch vorhanden.
Ich nutze ich die Zeit und laufe, einen heute sehr bequem begehbaren Holzsteg entlang am Canyon des Abiskojaure. Auch hier traten die Erinnerungen vor mein inneres Auge, in der junge Frauen, die in der Touriststation wohnten, nur bekleidet mit dem, was Gott ihnen mitgab, die Sonne verehrten, unbeeindruckt von der Unzahl hungriger Mücken. Ach…

Ich reiße mich von meinen Gedankenlos, cruise langsam weiter, vorbei an all den Bahnstationen, die für immer in mein Gehirn geprägt sind und durch die wohl aufregenste Welt Lapplands.
Narvik, in meinem Rückblick eine so brodelnde belebte Stadt zeigt sich mir heute als ein träger langweiliger Industriehafen ohne Charme. Hier hat mir meine Erinnerung wohl einen derben Streich gespielt. Ich verlasse die Stadt, suche mir einen netten Platz für die Nacht und trinke mein letztes Bier.
Bis morgen!

Winter mit Sauna

Der Blick aus dem Fenster des FidiBus treibt mir die Kälte in die Knochen. Nebelschwaden ziehen über die Bucht und es regnet. Der Entschluss eines Indoor-Frühstücks zwingt sich mir auf. Schwedisches Vollkornbrot, das sich von amerikanischem Weißbrot nur durch die Farbe und den süßlichen Geschmack unterscheidet, ansonsten ist es leicht auf ein Drittel seines Volumens komprimierbar.
Um kurz nach neun Uhr bin ich ‚on the road again‘. Zunächst fahre ich auf der geplanten Route, weiche aber kurz hinter Sundsval nach Nordwesten über kleinere Straßen aus. Bald bin ich so gut wie allein unterwegs. Immer wieder wechselt Asphalt und Schotter und FidiBus setzt langsam eine graubraune Dreckkruste an. So muss es sein, so fühlt er sich wohl.
Der Regen wird heftiger und bald mischen sich die ersten Schneeflocken unter die Tropfen. Die Temperatur sinkt auf ein Grad und ich stelle die Heizung höher. Meine Finger wollen nicht warm werden. Auf vierhundert Metern Höhe schneit es dann richtig. Wie wird es weitergehen? Was, wenn die Fahrbahn verschneit ist. Das würde meinen mühsam heraus gefahrenen Vorsprung zunichtemachen. Die Landschaft verwandelt sich in die typische boreale Tundralandschaft mit Seen, Sümpfen, Birkenwäldern, alles bedeckt von einer schmutzig weißen Schneedecke. Dann lese ich das Schild ‚Lappland‘ und als würde ich eine unsichtbare Wand durchfahren stehen, tauchen nun die Rentiere auf, Schneehühner queren die Piste und ein Fuchs steht seelenruhig am Straßenrand und beobachtet staunen meinen FidiBus. Meine Bitte für eine Fotosession schlägt er jedoch aus und mit eingezogenem Schwanz verschwindet er im Wald. Das Gelände wird niedriger, der Schnee verwandelt sich in Regen und es wird Zeit, mich nach einem Schlafplatz umzuschauen. Weder iOverlander noch Park4Night, die Lieblings-Apps für Overlander bieten einen Vorschlag. Nur am Nordsijön wird ein Campingplatz ausgewiesen. Eine Überprüfung des von mir ausgehenden olfaktorischen Reizes empfiehl mir eine Dusche und so steuere ich diese Herberge an. Eine gute Entscheidung, wie sich herausstellte.
Ich kratzte meine wenigen Brocken Schwedisch zusammen und melde mich in der Rezeption an. Es ist warm und gemütlich. Der Geruch warmen Essens wabert in meine Nasenflügel und das Mädel an der Theke macht mir klar, dass es heute Reise und eine Sauce aus geräuchertem Hähnchen und Gemüse gibt. Alles für neunzehn Euro und soviel ich mag. Das ist ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann. Übrigens findet die Konversation in schönstem Schwyzer Dütsch statt. Sie ist beim Reisen hier hängen geblieben und bleibt bis zum Sommer bevor sie weiter zieht.

Und wieder geschieht, was mir so häufig begegnet. Während ich mein Essen vor mir habe, setzt sich ein kräftiger Mann neben mich und beginnt zu erzählen. Sein Bruder betreibt den Campingplatz und er sei aus Luleo gekommen. Ihre Mutter sei vor zwei Wochen gestorben und nun trauern sie gemeinsam. Es scheint mir eine sehr fröhliche Art der Trauer zu sein, denn zuvor sah ich sie bei Bier und Whisky lachend die Würfel werfen. Eine Frau kommt an meinen Tisch und fragt, ob sie sich zu mir setzen darf. Kein Problem. Sie heißt Cordelia mit „C“. Auch sie ist Schweizerin, wie sich herausstellte. Auch sie sei hier gestrandet, nachdem sie durch eine Internetplattform, die Urlaub gegen Mitarbeit anbietet bei einem deutschen Landwirt Arbeit fand. Doch nach vierzehn Tagen machte ihr der Hausherr klar, dass er sie nicht mehr gebrauchen kann und eine halbe Stunde später war sie mit Sack und Pack ausgezogen und fand eine kleine Hütte hier auf dem Platz.
Es sei eine schreckliche deutsch-holländische Familie gewesen. Er quälte seine Tiere, war fett wie ein Otter was verhinderte, dass er arbeiten konnte und behandelte seine Frau wie seinen Sklaven. Cordelia bekam gesagt, wann sie aufzustehen und wann sie Zu Bett zu gehen hatte. Sie schleppte schwere Säcke und stand derweil im Hof und rauchte. Ja, so kann es gehen.

Es ist Zeit für die Sauna, die bereits angeheizt war. Ein Pärchen aus Heidelberg hatte den Ofen angefeuert und so setzte ich mich wie ein Kuckuck in das gemachte Nest. Es ist ein zauberhafter Blick aus der heißen Sauna heraus auf den vereisten See und in die winterliche Landschaft. Absolute Ruhe umgab mich und nur das Knistern des Feuers verströmt Wärme. Schnell entspinnt sich ein Gespräch, wie immer über das woher, wohin. Sie wollen nach Narvik über Abisko und zurück auf der norwegischen Seite nach Heidelberg. Da kann ich mit einigen Tipps für schöne Wanderungen helfen. Es war ja ‚meine Gegend‘ und noch beim Erzählen spüre ich diese ungeheure Vertrautheit, das alte Gefühl eines zweiten Zuhhauses, nachdem ich in den Siebzigern viele Sommer in meinem Zelt in den Bergen am Torneträsk verbracht hatte. Ich erzählte ihnen von der Empfindlichkeit der Natur (gehe im weglosen Gelände niemals den gleichen Weg zweimal, denn dann entsteht ein Pfad auf dem spärlichen Boden. Starte und verbrenne nur in größter Not die winzigen, harzreichen Zwergbirken, denn sie sind hunderte Jahre alt. Verwende zu starten eines Feuers die Rinde umgestürzter Birken. Ihre Hitze bringt selbst nasses Holz zum Brennen).
Zwischen den Saunagängen sitzen wir schweigend auf einer grau verwitterten Holzbank und lassen die Stille tief in uns eindringen.
Die Temperatur ist auf Minusgrade gesunken. Es wird Zeit, in meinen Schlafsack zu kriechen. Den Reißverschluss bis obenhin geschlossen und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, schlafe ich schon bald einen tiefen und gesunden Schlaf.


Tag zwei

Noch 1300 km bis Tromsöya

Ich wache von dem Trommeln des Regens auf das Dach meines FidiBus auf. Der Wetterbericht hatte recht. Es ist halb fünf am Morgen und draußen ist es bereits wieder hell. Das Trommeln des Regens wirkt auf mich beruhigend und einschläfernd und als ich das zweite Mal erwache, ist es halb acht. Es geht nichts über einen ruhigen und tiefen Schlaf. Von der Reise gibt es nicht viel zu berichten. Auf meinem Weg liegt gleich zu Beginn die Ruine des Zisterzienserklosters von Alvastra aus dem Gründungsjahr 1143.
Die Route E4 ist wegen Sprengarbeiten gesperrt und ich weiche ein wenig weiter nach Westen aus. Landschaftlich ist es hier sehr lieblich, trotz weiter sinkender Temperatur. Kurz hinter Söderhamn suche ich mir einen Schlafplatz und werde an der Küste des Bottnischen Meerbusens zwischen Gävle und Sundsval auf einer kleinen Halbinsel fündig. Der Weg führt über eine vierzehn Kilometer lange Schotterpiste, aber es lohnt sich. Links und rechts leuchten im Wald noch einige Schneereste. Von grünen Bäumen ist außer bei den Fichten noch nichts zu erkennen. Meteorologisch bin ich wieder Mitte März gelandet. Vor mir öffnet sich die Schärenlandschaft, ein paar vereinzelte Häuser stehen am Ufer und im leicht bewegten Wasser schaukelt hier und da ein Ruderboot. Es ist ruhig und friedlich.
Es ist viertel vor zehn und die Dämmerung bedeckt langsam die Bucht und meinen FidiBus.

Es geht los!

Nach einem Zwischenaufenthalt in Reinbek und Launburg mache ich mich am 6. Mai auf den Weg Richtung Dänemark. Durch eine Landschaft voller goldener goldene Rapsfelder und frischgrüner Wälder cruise ich auf verwinkelten Landstraßen dahin und weiß manchmal nicht einmal mehr, ob ich überhaupt noch in der richtigen Richtung unterwegs bin. Irgendwann hören die Wälder auf. Stattdessen breiten sich nun weite Felder vor mir aus und nach zweieinhalb Stunden sehe ich das erste Hinweisschild nach Puttgarden Fährhafen und nur wenig später fahre ich an den automatischen Check-In Automaten. Wie leicht doch alles geht, QR-Code einlesen und schauen, ob ich noch am selben Abend übersetzen kann. Gleich zwei Irrtümer überzeugen mich davon, dass nicht so funktionieren muss, wie man es sich ausdenkt. Erstens funktioniert der Check-In nicht mit dem QR-Code, den ich samt Ticket auf meinem Smartphone abgespeichert habe, sondern ich muss einen Bar-Code vorweisen, der nur auf dem gedruckten Ticket zu finden ist. Ich finde, das ist wie eine E-Mail, die ich ausdrucken und verschicken muss, damit sie ihren Empfänger erreicht. Alternativ kann ich die Buchungsnummer von Hand eingeben. Das klappt erstaunlich schnell. Erstaunlich ist jedoch die Nachricht, die sich darauf auf dem Display zeigt. ‚Sie haben 80 Euro bezahlt. Offene Bezahlung 64 Euro‘. Das ist der Aufpreis für die Umbuchung auf eine fast leere Fähre. Nie und nimmer! Rückwärts schleiche ich mich aus der Reihe, nötige einige geduldige Autofahrer ebenfalls zu einem Rückzugmanöver und peile einen Übernachtungsplatz an, den mir die kluge App iOverlander empfiehlt. Zehn Euro auf einem Strandparkplatz inklusive Toilette und Übernachtung. Leider stimmte das wohl zum Zeitpunkt des Eintrages 2021 noch; heute prangt neben dem Parkplatzschild jedoch ein noch größeres, dass darauf verweist, dass Übernachtungen nicht und unter keinen Umständen erlaubt seien. Also wähle ich die nächste Alternative, einen Campingplatz im Ort Altenteil. Ja, dieser Ort heißt tatsächlich so und er macht seinem Namen alle Ehre. Um 21 Uhr ist sämtliches Leben von den Straßen gewichen und das Licht ist aus den Fenstern erloschen wie das Leben dieses Dorfes. Der Campingplatz allerdings ist vorhanden. Laut Beschreibung bei iOberlander kostet er drinnen zwanzig und draußen vor der Schranke für ‚Overnight-Gäste‘ zehn Euro. Etwa fünf junge Menschen, die Betreiber, wie sich herausstellt, haben sich jedoch soeben entschlossen, fröhlich lachend die Rezeption zu verlassen. Online Check-In ginge noch für eine halbe Stunde, wenn ich Netz finde. Ich fand! Zwei Minuten vor Ablauf der Frist und zu einem Preis von siebzehn Euro parke ich meinen FidiBus in die beschriebene Bucht, die ich auf eigene Initiative hin ein wenig erweitere, indem ich den Zaun zum Strand ignoriere, worauf ich umgehend von einem grimmigen Surfer hingewiesen werde. Wie dem auch sei, der Platz hat Ostseeblick und hervorragende Sanitäranlagen.
Der 7. Mai beginnt um 6:45 Uhr mit einem Kaffee und sauerer Kaffeesahne, er lässt sich bequem an und endet in Hektik, weil ich mal wieder die Zeit verträume. Im letzten Augenblick bewältige ich das Check-In-Verfahren für die Fähre, bekomme, weshalb auch immer eine Zusatzzahlung von sechzehn Euro von meiner Kreditkarte abgebucht und dann schaukele ich in fünfundvierzig Minuten nach…Die zweite Fähre schippert mich von Helsingör nach Helsingborg. Und dann bin ich in Schweden. Die erste Übernachtung in Schweden ist am Vättern-See. Erst stehe ich hier allein, später gesellt sich Cornelia, eine schwedische Ärztin dazu, die auf der Wiese ihr Zelt aufbaut. Ich spendiere ein Glas Wein, richte ein Feuer her und wir unterhalten uns noch eine Weile.
Und nun sage ich: Gute Nacht!

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